ERP-Probleme bei Liqui Moly – Versuch einer differenzierten Einordnung

Anfang Juli ging Liqui Moly Geschäftsführer Ernst Prost mit einer aufsehenerregenden Pressemitteilung an die Öffentlichkeit. Darin beklagt Prost die Probleme durch die ERP-Umstellung, die erhebliche Schwierigkeiten in den Geschäftsbetrieb der Ulmer Schmierstoffspezialisten brachten. Container können vielfach nur halb gefüllt werden und oft muss teure Luftfracht in Anspruch genommen werden, um termingerecht zu liefern. Prost spricht Klartext: „Trotz der Unterstützung durch renommierte Softwarehäuser gelingt es uns noch immer nicht, auf dem Level zu produzieren und zu liefern, das wir erwarten und das unsere Kunden von uns erwarten“ und „Ich habe mich in meinem ganzen Berufsleben noch nie so oft bei meinen Kunden entschuldigen müssen wie in den letzten sechs Monaten. Was wir zurzeit an Leistung abliefern, schmerzt mich zutiefst.“ Gegenüber der F.A.Z. setzt er noch einen obendrauf: „Das ist schlimmer als Brexit, Trump und Handelskrieg!“ Die Dauerbaustelle bei der Geschäftssoftware sorgte lt. Unternehmensangaben zu einem Gewinneinbruch von rund 30 % auf 11 Millionen Euro bei etwa gleichem Umsatz.

Liqui Moly beschäftigt 900 Mitarbeiter an zwei deutschen Produktionsstandorten in Ulm und Saarlouis, vertreibt auch über vier internationale Tochtergesellschaften und liefert aus zehn Logistiklagern. Bisher wurden die Geschäfte auf einer stark individualisierten ERP-Lösung abgewickelt, die auf COBOL basiert und in einer IBM AS400-Umgebung betrieben wurde.

Kurz nach dem medienwirksamen Aufschrei wurde bekannt, dass es sich beim neuen ERP-System um Dynamics AX handelt. Das Produkt heißt genau genommen „Microsoft Dynamics 365 for Finance and Operations“ und stammt – wie der Name schon sagt – vom Softwareriesen Microsoft. Diese ERP-Software ist jedoch nach wie vor unter dem früheren Namen „Dynamics AX“ bekannt.

In der medialen Berichterstattung über die ERP-Misere bei Liqui Moly wurden einige Fakten verzerrt oder stark vereinfacht dargestellt. Deshalb hier der Versuch einer differenzierten Einordnung, die jedoch ohne Detailkenntnis des Projekts und somit von außen erfolgt. Zunächst ist festzuhalten, dass Microsoft „nur“ der Hersteller des ERP-Systems Dynamics AX ist. Microsoft vertreibt das Produkt in einem zweistufigen Vertriebsmodell, bei dem Softwarehäuser die Projektabwicklung für die Implementierung des ERP-Systems übernehmen. Im Regelfall kommt der Kunde während eines ERP-Projekts nicht mit Mitarbeitern von Microsoft in Berührung. Dies soll keinesfalls eine Entschuldigung für Microsoft sein. Es geht lediglich um die richtige Einordnung über Verantwortung und Rollen der einzelnen Beteiligten.

Die Einführung eines ERP-Systems ist ein Unterfangen, bei dem drei Zahnräder ineinandergreifen müssen: ERP-System, Softwarehaus und der Kunde. Der Kunde selbst darf also in einer differenzierten Betrachtung nicht vergessen werden und in puncto Software ist das ERP-System an sich und das implementierende Softwarehaus zu unterscheiden. Microsoft trägt als Hersteller die Verantwortung für funktionale Breite und Tauglichkeit des ERP-Systems Dynamics AX. Das Softwarehaus ist verantwortlich für die Analyse der Kundenanforderungen sowie Erstellung und Umsetzung einer geeigneten Strategie zur Einführung des ERP-Systems. Der Kunde hat umfassende Mitwirkungspflichten und trägt gemeinsam mit dem Softwarehaus die Verantwortung für die sukzessive Überführung der Prozesse in die neue Software.

Aus diesem Blickwinkel muss der Werdegang des ERP-Projekts bei Liqui Moly über die grundlegenden Phasen beleuchtet werden:

Auswahlphase

Liqui Moly stand vor der Entscheidung einer Neuinvestition, weil das bisherige ERP-System nicht weiterentwickelt wurde. Man konnte also aus dem Vollen schöpfen und hatte den gesamten ERP-Markt vor sich. Die Evaluierung geeigneter ERP-Systeme wird im Idealfall auf der Basis der kundenspezifischen Anforderungen durchgeführt. Wir verwenden hierzu ein kundenindividuell erstelltes Lastenheft und andere praxiserprobte Tools. Im Rahmen der Evaluation gilt es auch, die grundlegenden Wertschöpfungsprozesse des Kunden zu simulieren. Auch hierzu gibt es praxiserprobte Vorgehensmodelle. Angewendet auf den Fall Liqui Moly: Hat man sich nach eingehender Auseinandersetzung mit den eigenen Bedürfnissen für das richtige ERP-System und das richtige Systemhaus entschieden?
Bevor man mit der aus der Evaluation hervorgegangenen Nr. 1 in das Projekt startet, lassen sich zur Risikominimierung Zwischenschritte einbauen, die einen kostenschonenden Exit ermöglichen. Auch hier hätte Liqui Moly ggf. besser agieren können.

Projektphase

Die Projektphase hängt entscheidend von der Expertise des Softwarehauses ab. Es muss die richtigen Schritte in der richtigen Reihenfolge vorgeben, um sicher ans Ziel zu kommen. Der Kunde stellt idealerweise ausreichend sachkundige Mitarbeiter ab, die eng ins ERP-Projekt eingebunden sind. Dies ist häufig ein limitierender Faktor, weil die Tätigkeiten für das ERP-Projekt on top zur eigentlichen Tätigkeit hinzukommen. Bei Liqui Moly stellt sich die Frage, ob man im Projekt bereit war, sich am Standard des ERP-Systems zu orientieren und Abschied von liebgewonnenen Funktionen der COBOL-Lösung zu nehmen?

Liqui Moly besitzt eine verästelte Firmenstruktur, die grundsätzlich mehrere verschiedene Möglichkeiten des Roll-outs bietet. Erfahrene Softwarehäuser kennen Vor- und Nachteile der jeweiligen Strategien und wählen unter Einbindung des Kunden die beste aus. Hier stellt sich die Frage, ob eine geeignete Roll-out-Strategie für die Einführung von Dynamics AX gewählt wurde?

Bevor ein ERP-Projekt in den Livebetrieb geht, muss im Normalfall eine umfassende Test- und Abnahmephase durchlaufen werden. Wenn nach dem Go-live über mehrere Monate Schwierigkeiten in einem so großen Ausmaß entstehen, sind grundlegende Zweifel an Test und Abnahme angebracht.

Fazit

Eine Baustelle in der Geschäftssoftware ist zweifelsohne eine Last für jedes Unternehmen. Im Unterschied zu Brexit, Trump und Handelskrieg hat der Kunde jedoch erheblich mehr Einflussmöglichkeiten und Stellschrauben. Die Ursachen für ERP-Projekte in Schieflage sind oft vielschichtig. Im engen Verbund aus Softwarehersteller, Softwarehaus und Kunde müssen diese klar auf den Tisch kommen und dann angegangen werden. Und die Fähigkeit Klartext zu reden hat Herr Prost mit der Pressemitteilung ja bereits unter Beweis gestellt.

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